
OLG Hamm bestätigt Berufsunfähigkeit einer Grundschullehrerin aufgrund von chronischem Fatigue-Syndrom (CFS) - Anbieter einer Berufsunfähigkeitsversicherung zur Leistung verurteilt
Haben Sie sich jemals gefragt, wie es sich anfühlt, wenn Ihr Körper Sie im Stich lässt, aber Ihre Versicherung Ihnen nicht glaubt?
Für Menschen mit chronischem Fatigue-Syndrom (CFS) ist dies oft bittere Realität. Das Oberlandesgericht Hamm hat in einem Urteil vom 13.09.2023 (Az. 20 U 371/22) einer Grundschullehrerin Recht gegeben, die seit 2016 an CFS leidet und deren Berufsunfähigkeitsversicherung die Leistung verweigerte.
Warum ist dieses Urteil so bedeutsam?
Weil es zeigt, wie Gerichte mit schwer objektivierbaren Erkrankungen umgehen, welche Beweisanforderungen gestellt werden und wie Betroffene (ggf, mit Hilfe ihres Rechtsanwalts) ihre Rechte durchsetzen können. Für wen ist dieser Fall relevant? Für jeden, der an CFS oder ähnlichen Erschöpfungserkrankungen leidet und um Anerkennung bei Versicherungen kämpft. Aber auch für Anwälte für Berufsunfähigkeitsversicherungen, die das Urteil noch nicht kennen.
Im Einzelnen:
Mit Urteil vom 13. September 2023 hat das Oberlandesgericht Hamm (Aktenzeichen: 20 U 371/22, OLG Hamm) einer am chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) erkrankten Grundschullehrerin eine Berufsunfähigkeitsrente aus einer bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung zugesprochen. Der 20. Zivilsenat bestätigte damit eine Entscheidung der Vorinstanz und der Argumentation der Rechtsanwälte der Klägerin.
Kurz-Zusammenfassung zu OLG Hamm: Chronisches Fatigue-Syndrom führt zur Berufsunfähigkeit – BU-Versicherung muss zahlen
Die Richter betonten, dass die Berufsunfähigkeit der Klägerin aufgrund des chronischen Fatigue-Syndroms ab der Begutachtung durch den Sachverständigen vor der Zivilkammer des Landgerichts überzeugend begründet war. Der Zivilsenat hatte den Gutachter in der Berufungsverhandlung erneut angehört, der die in der Vorinstanz getroffenen Feststellungen wiederholte. Dessen Ausführungen waren nach Ansicht der Richter nachvollziehbar und überzeugend.
So hatte der Sachverständige erklärt, die Versicherungsnehmerin sei aufgrund von Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, reduzierter Aufmerksamkeit und erhöhter Erschöpfbarkeit nicht einmal in der Lage, eine einzelne Unterrichtsstunde durchzuführen.
Das OLG wies auch die Argumente der Berufsunfähigkeitsversicherung bzw. von deren Rechtsanwälten zurück, dass die Feststellungen des Gutachters lediglich auf subjektiven Aussagen der Versicherten im Rahmen der psychologischen Tests beruhten.
Der Sachverständige habe die Angaben der Klägerin mit den Resultaten der Testpsychologie abgeglichen und auch die klinischen Beobachtungen berücksichtigt. Hiernach habe sie während der Testung einen deutlichen Leistungsabfall gezeigt. Zudem deckten sich die Ergebnisse des gerichtlich bestellten Gutachters mit den Feststellungen eines von der Versicherungsgesellschaft selbst beauftragten Sachverständigen sowie mit weiteren ärztlichen Berichten.
Das Gericht ging ebenso auf die berufliche Tätigkeitsbeschreibung der unter Fatigue leidenden Klägerin ein und wies das pauschale Bestreiten der Versicherung und deren Anwälten zurück. Es stellte fest, dass die Berufsunfähigkeitsversicherte neben ihrem Unterricht in der Grundschule auch in der Ausbildung von Lehramtsanwärtern und als Prüferin im Staatsexamen tätig war. Aufgrund der Schwere ihrer Fatigue-Erkrankung sei sie nicht mehr in der Lage, diese vielfältigen Aufgaben zu erfüllen.
Somit wurde die Berufsunfähigkeitsversicherung verurteilt, der Klägerin eine Berufsunfähigkeitsrente als Leistung aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zu gewähren, überschüssig erhaltene Beiträge zurückzuzahlen und sie rückwirkend von ihrer Beitragspflicht zu befreien.
Praktische Ratschläge für Betroffene einer Berufsunfähigkeit durch CFS
Das Urteil zeigt, dass Gerichte durchaus bereit sind, auch bei schwer objektivierbaren Erkrankungen wie CFS eine Berufsunfähigkeit anzuerkennen, wenn die Beweislage überzeugend ist.
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Dokumentieren Sie Ihre Beschwerden sorgfältig.
Führen Sie ein Symptomtagebuch, in dem Sie Ihre Beschwerden, deren Intensität und Auswirkungen auf Ihren Alltag festhalten. Diese Dokumentation kann später als wichtiges Beweismittel dienen
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Suchen Sie spezialisierte ärztliche Hilfe.
Wenden Sie sich an Ärzte, die Erfahrung mit CFS haben. Idealerweise sollten Sie Befunde von verschiedenen Fachrichtungen (Neurologie, Innere Medizin, Psychiatrie) sammeln, um ein umfassendes Bild Ihrer Erkrankung zu erhalten.
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Lassen Sie sich psychologisch testen.
Wie das Urteil zeigt, können spezielle psychologische Testverfahren dazu beitragen, die subjektiven Beschwerden zu objektivieren. Fragen Sie Ihren Arzt nach entsprechenden Tests.
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Beschreiben Sie Ihre beruflichen Einschränkungen konkret.
Machen Sie deutlich, welche konkreten Tätigkeiten Ihres Berufs Sie nicht mehr ausüben können und warum. Je anschaulicher und detaillierter Ihre Schilderung, desto überzeugender wirkt sie. Lassen Sie sich notfalls vom Anwalt dabei helfen.
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Setzen Sie der Berufsunfähigkeitsversicherung angemessene Fristen.
Wenn die Versicherung die Entscheidung über Ihren BU-Leistungsantrag hinauszögert, setzen Sie ihr eine angemessene Frist. Nach Ablauf dieser Frist gerät sie in Verzug, was Ihnen zusätzliche Ansprüche (z.B. auf Verzugszinsen) verschaffen kann.
- Scheuen Sie nicht den Rechtsweg.
Für alle Interessierten, die noch tiefer in den Fall eintauchen wollen, soll hier auch der Hintergrund des CFS-Falles dargestellt werden.
Hintergrund: Antrag auf Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung wegen CFS-Versicherung erkennt Gutachten eigens beauftragter Sachverständiger nicht an
Die Klägerin, eine im Jahr 1996 verbeamtete Grundschullehrerin, die auch als Fachseminarleiterin für Lehramtsreferendare tätig war, hatte im Jahr 2003 eine Berufsunfähigkeitsversicherung bei der beklagten Versicherungsgesellschaft abgeschlossen. 2016 wurde bei der Versicherungsnehmerin das chronische Fatigue-Syndrom diagnostiziert. Aufgrund der Erkrankung war sie ab Ende April 2016 wiederholt und ab August 2017 dauerhaft arbeitsunfähig. Im Dezember 2017 beantragte sie Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung.
Die Versicherung eröffnete das Leistungsprüfungsverfahren und holte mehrere medizinische Gutachten von externen Sachverständigen ein, die die Berufsunfähigkeit der Versicherungsnehmerin letztlich bestätigten. Dennoch folgte die Berufsunfähigkeitsversicherung nicht der Einschätzung der von ihr beauftragten Gutachter und versagte der Klägerin die Auszahlung der Berufsunfähigkeitsrente. Sie verwies (später Im Laufe des Verfahrens) unter anderem darauf, dass sich Hinweise auf eine bestehende Berufsunfähigkeit nur aus testpsychologischen Untersuchungen, nicht aber aus dem klinischen Erscheinungsbild der Betroffenen ableiten ließen.
Daraufhin erhob die anwaltlich vertretene Versicherungsnehmerin Klage beim Landgericht Detmold. Sie beantragte durch ihren Anwalt unter anderem, die Versicherungsgesellschaft zur Auszahlung der monatlichen Bezüge aus der Berufsunfähigkeitsversicherung sowie zur Rückzahlung überschüssiger Beitragszahlungen zuzüglich Zinsen seit dem 1. Juni 2016 zu verurteilen.
Landgericht Detmold entschied Berufsunfähigkeit bereits zugunsten der Versicherungsnehmerin
Bereits das Landgericht Detmold hatte der Klage weitgehend stattgegeben, nachdem die Zivilkammer die Prozessparteien mündlich angehört und ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt hatte, das die Berufsunfähigkeit der Klägerin ebenfalls bestätigte. Das Gericht stellte fest, dass die Versicherungsnehmerin seit 2016 an CFS leidet, einer chronischen Erkrankung, die mit extremer Müdigkeit und Erschöpfung einhergeht. Aufgrund dieser Symptome sei die Klägerin nach Auffassung des Landgerichts nicht mehr in der Lage, ihren Beruf als Grundschullehrerin weiterhin auszuüben.
Interessante Fragen und Antworten zum vorliegenden BU-Fall zum Thema CFS und Berufsunfähigkeit
Wie wird ein chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) als Grundlage einer Berufsunfähigkeit diagnostiziert?
Meiner Erfahrung nach erfolgt die Diagnose eines CFS erfolgt hauptsächlich durch Ausschluss anderer Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können. Es gibt keine spezifischen Tests wie Blutmarker oder bildgebende Verfahren, die CFS direkt nachweisen können.
Allerdings können spezielle psychologische Testverfahren, wie im vorliegenden Fall, dazu beitragen, die Beschwerden zu objektivieren. Hilfreich können hier auch Fatigue-Skalen und ggf. die sogenannten Kanadischen Kriterien (Canadian Consensus Document) bei ME/CFS oder andere Kriterienkataloge (zur Diagnostik) sein.
Muss ich mich behandeln lassen, um Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zu haben?
Nein, das OLG Hamm hat ausdrücklich festgestellt, dass keine Behandlungsobliegenheit besteht. Die Versicherungsbedingungen enthielten keine entsprechende Klausel, und es gab keine Hinweise darauf, dass die Klägerin sich zumutbaren Behandlungen verweigert hätte. Aber für den Nachweis der Berufsunfähigkeit kommt den medizinischen Unterlagen eine große Bedeutung zu! Das sollten Sie unbedingt beachten, so mein Rat als Rechtsanwalt.
Kann die Berufsunfähigkeitsversicherung mich auf andere Tätigkeiten verweisen?
Das hängt von den konkreten Versicherungsbedingungen ab. Im vorliegenden Fall hatte die Berufsunfähigkeitsversicherung auf eine abstrakte Verweisung verzichtet. Das bedeutet, dass die Versicherung die Klägerin nicht auf andere Berufe verweisen konnte, die sie theoretisch noch ausüben könnte.
Wie lange dauert ein solcher Rechtsstreit mit der Berufsunfähigkeitsversicherung?
Der vorliegende Fall zeigt, dass ein Rechtsstreit um Berufsunfähigkeitsleistungen mehrere Jahre dauern kann. Die Klägerin hatte bereits 2017 ihren Leistungsantrag gestellt, das Urteil des OLG Hamm erging erst 2023.
Was passiert, wenn sich mein Gesundheitszustand verbessert und ich nicht mehr berufsunfähig bin?
Wenn sich Ihr Gesundheitszustand verbessert, kann die Versicherung im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens feststellen, ob die Voraussetzungen für die Leistungspflicht noch vorliegen. Die Beweislast für die Verbesserung trägt jedoch die Berufsunfähigkeitsversicherung.
Quelle
(Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 13.09.2023 (Az. 20 U 371/22) die Entscheidung ist abrufbar unter https://nrwe.justiz.nrw.de/olgs/hamm/j2023/20_U_371_22_Urteil_20230913.html)
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